Keine zusätzliche Umverteilung von Einkommen auf Basis des WSI-Berichtes

Andreas Peichl

Das WSI hat heute seinen Verteilungsbericht 2019 vorgelegt. Auf den ersten Blick geben die Daten Anlass zur Sorge: Die Ungleichheit bei den verfügbaren Haushaltseinkommen (gemessen mit dem Gini-Koeffizienten) hat im Jahr 2016 einen neuen Höchststand erreicht, trotz der guten wirtschaftlichen Entwicklung in den Jahren 2013 bis 2016. Dabei haben die Bezieher hoher Einkommen in den vergangenen Jahren stärker zugelegt als andere Einkommensgruppen. Die Haushalte mit den geringsten Einkommen sind hingegen weiter zurückgefallen, auch gegenüber der Mitte. Die Armutsquote befindet sich deshalb auf hohem Niveau, während die Bezieher mittlerer Einkommen ihre Situation verbessern konnten.

Keine strukturelle Verschiebung von arm zu reich

Man muss sich die Daten sehr genau ansehen, bevor man vorschnell politische Maßnahmen daraus ableitet: Der WSI-Bericht nutzt die Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) des DIW. Die aktuelle Welle aus 2017 beinhaltet die Vorjahreseinkommen für das Jahr 2016. Betrachtet wird die Ungleichverteilung der sogenannten äquivalenzgewichteten verfügbaren Haushaltseinkommen – also die Einkommen nach Umverteilung durch den Staat und unter Berücksichtigung von Haushaltsgröße- und -zusammensetzung.

Der Gini-Koeffizient ist im betrachteten Zeitraum tatsächlich leicht gestiegen – wie auch das DIW schon in seinem Wochenbericht 19/2019 im Mai gezeigt hat. Aber was sagt das über die reale Situation? Man muss wissen, dass es eine gewisse Unsicherheit in Befragungsdaten wie dem SOEP gibt. Der Punktschätzer des Gini-Koeffizienten schwankt in diesen Daten seit 2005 immer um einen Wert von 0,29. Wenn man die zugrunde liegende statistische Unsicherheit berücksichtigt und Konfidenzintervalle betrachtet, dann sieht man, dass sich diese über die Jahre hinweg überlappen und es somit keine statistisch signifikanten Unterschiede gibt. Außerdem gibt es immer wieder auch rückwirkende Korrekturen der SOEP-Daten So variiert beispielsweise die Armutsrisikoquote für das Jahr 2012 zwischen 14,0 und 14,7%, und sie ist seit 2008 entweder um 0,4 Prozentpunkte gestiegen (SOEP-Welle 33), um 0,2 Prozentpunkte gesunken (SOEP-Welle 32) oder gleichgeblieben (SOEP Welle 31) – obwohl es sich um die gleichen Haushalte in den jeweiligen Jahren handelt. Deshalb sollte man leichte Veränderungen der Punktschätzer nicht überbewerten.

Gerade im betrachteten Zeitraum ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein leichter Anstieg des Gini-Koeffizienten eine strukturelle Verschiebung von arm zu reich bedeutet. Der Anstieg der Ungleichheit ist vielmehr eindeutig auf die Flüchtlingswelle zurückzuführen. Mit der Einwanderung ist eine ganze Gruppe mit niedrigem oder keinem Einkommen hinzugekommen. Die zwingende Folge ist, dass die Ungleichheit insgesamt ansteigt. Wenn man hingegen für den gleichen Zeitraum ausschließlich die Gruppe der Einheimischen betrachtet, ist die Armut sogar gesunken.

Absolut sind weniger Menschen in Deutschland arm

Armut wird im Bericht vor allem relativ – etwa in Bezug zum mittleren Einkommen – betrachtet (siehe graue Linien ). Dieses Vorgehen ist verbreitet, hat aber eine Schwäche. Steigen die Einkommen insgesamt, verschiebt sich auch die Armutsschwelle und damit die Armutsquote nach oben (siehe dunkelblaue Linie). Das ist gerade in der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs ab 2013 zu beobachten.  Von dem haben die Bezieher mittlerer Einkommen stärker profitiert, weil sie mehr arbeiten, wenn es den Firmen besser geht. Für die Arbeitnehmer in den unteren Einkommensgruppen gilt das oft nicht. Es wäre jedoch falsch, daraus abzuleiten, dass die neu unter der Armutsgrenze liegenden Haushalte im Rahmen dieser Entwicklung ihren Lebensstandard senken müssen. Im WSI-Verteilungsbericht wird die Armutsgrenze für jedes Jahr neu berechnet. Um den Effekt des steigenden Medianeinkommens herauszurechnen, zeigt die hellblaue Linie die kaufkraftbereinigte Armutsgrenze und die hellgraue Linie die dazugehörige Armutsrisikoquote, wenn man die Armutsgrenze von 2005 auf das jeweilige Jahr inflationiert. Bis 2013 verlaufen die Werte sehr ähnlich zur normalen Armutsgrenze/-risikoquote, danach steigen die inflationierten Werte weniger stark an, was zeigt, dass die mittleren Einkommen stärker gestiegen sind als die unteren Einkommen. Dies bedeutet also nicht, dass die armen Menschen weniger Einkommen haben, sondern nur das deren Einkommen (die überwiegend aus Transfers bestehen) weniger stark gestiegen sind als die Einkommen in der Mitte. Und es bedeutet schon gar nicht, dass mehr Menschen als zuvor arm sind. Im Gegenteil: Der Anteil der Haushalte, die aufgrund fehlender finanzieller Mittel wichtige Ausgaben für Wohnen und Gebrauchsgüter nicht bestreiten können, ist zwischen 2013 und 2017 gesunken.

 

Grafik Armutsquotient

 

Prophylaktische Umverteilung bringt nichts

Wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck aufkommt, die Ungleichheit nehme zu, wird immer schnell Umverteilung gefordert. Politische Maßnahmen der Umverteilung richten sich in die Zukunft. Deutschland steht im internationalen Vergleich gut da – besonders was die Entwicklung der mittleren Einkommen angeht. In qualitativen Befragungen zeigt sich allerdings, dass die Zukunftsängste trotzdem groß sind. Die Deutschen fragen sich, ob das angesichts der globalen Unsicherheiten von Handelskrieg bis Brexit auch bei ihren Kindern noch so sein wird. Die Entwicklung der Ungleichheit zu prognostizieren, ist aber besonders schwierig.

Wie sich die Ungleichheit in Zukunft verändert, hängt auch von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Ökonomen rechnen für die Gesamtwirtschaft aktuell zwar nicht mit einer Rezession. Sollte es aber zu einer Krise kommen, hätte das Konsequenzen auf die Verteilungsgerechtigkeit. Im Abschwung sinken die Unternehmenseinkommen tendenziell stärker. Die Arbeitnehmereinkommen hingegen sind stabiler gegenüber dem Konjunkturzyklus, so dass Ungleichheitsmaße entsprechend volatil gegenüber dem Konjunkturzyklus sind.

Dies alles bedeutet jedoch nicht, dass wir in Deutschland keine (Verteilungs-)Probleme haben. Doch die Diskussion um den vermeintlichen Anstieg der Ungleichheit bei den verfügbaren Einkommen lenkt von den wirklich wichtigen Problemen ab. Zum einen müssen wir im Bildungsbereich mehr in frühkindliche Bildung (und nicht nur Betreuung) investieren, um die Chancengerechtigkeit zu erhöhen. Zum anderen muss die Sozialpolitik zielgenauer gestaltet werden. Bei Niedrigverdienern führt das Zusammenwirken von wegfallenden Sozialleistungen, Abgaben und Steuern dazu, dass immer wieder mehr brutto zu weniger netto führt. Das ist absurd. Außerdem sollten wir die Qualifizierung und Weiterbildung von Geringverdienern dringend verbessern, damit sie aufsteigen können und die Unternehmen die dringend benötigten Fachkräfte bekommen.

Article in Journal
Maximilian Joseph Blömer, Clemens Fuest, Andreas Peichl
2019
Wirtschaftsdienst 99 (4), 243–247
Article in Journal
Philip Jung, Anke Hassel, Robert Habeck, Matthias Knuth, Alexander Spermann, Hans Peter Grüner, Maximilian Joseph Blömer, Clemens Fuest, Andreas Peichl
ifo Institut, München, 2019
ifo Schnelldienst, 2019, 72, Nr. 06, 03-25
Article in Journal
Maximilian Joseph Blömer, Clemens Fuest, Andreas Peichl
ifo Institut, München, 2019
ifo Schnelldienst, 2019, 72, Nr. 04, 34-43
Article in Journal
Paul Hufe, Andreas Peichl, Daniel Weishaar
ifo Institut, München, 2018
ifo Schnelldienst, 2018, 71, Nr. 20, 20-28
Contribution in Refereed Journal
Paul Hufe, Andreas Peichl, Marc Stöckli
De Gruyter, Berlin, 2018
Perspektiven der Wirtschaftspolitik 19 (3), 185–199

Information

Article in Journal
Andreas Peichl, Marc Stöckli
ifo Institut, München, 2018
ifo Schnelldienst, 2018, 71, Nr. 15, 18-22
Article in Journal
Paul Hufe, Andreas Peichl
ifo Institute, Munich, 2018
CESifo Forum 19 (2), 26-34
Contact
Prof. Dr. Andreas Peichl

Prof. Dr. Andreas Peichl

Director of the ifo Center for Macroeconomics and Surveys
Tel
+49(0)89/9224-1225
Fax
+49(0)89/907795-1225
Mail
You Might Also Be Interested In