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Der deutsche Strommarkt braucht lokale Preise

Ein Aufruf von zwölf Energieökonomen


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Entsprechend niedrig wäre in diesen Regionen der Preis, der Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht bringen würde. Umgekehrt verhält es sich in Regionen, in denen ein hoher Stromverbrauch auf ein begrenztes Angebot trifft. Hier ist Strom sehr wertvoll und der Preis, der Angebot und Nachfrage ausgleicht, hoch. Strom hat also einen lokalen Wert. Nur wenn das Stromnetz genügend Kapazität hat, um Angebot und Nachfrage in allen Regionen gleichzeitig auszugleichen, verschwinden die regionalen Wertunterschiede. Der deutsche Strommarkt ignoriert diese regionalen Unterschiede. Es gibt in Deutschland eine einheitliche Preiszone, das heißt der Preis an der Strombörse ist für ganz Deutschland immer gleich, unabhängig davon, wie hoch die regionalen Markträumungspreise tatsächlich sind und wie wertvoll der Strom an einem bestimmten Ort ist. Der Strommarkt gibt sich also der Illusion hin, es gäbe immer ausreichend Kapazitäten zur Durchleitung. Ein Grund für dieses Marktdesign ist die Vermeidung politisch unerwünschter regionaler Preisungleichheiten - wobei es auch heute regionale Preisunterschiede gibt, zum Beispiel aufgrund unterschiedlicher Netzentgelte (die gerade in den Regionen höher sind, in denen viele Wind- und Solarparks angeschlossen werden, wo Strom ja eigentlich günstiger sein sollte). Diese Illusion wird sich angesichts der großen Herausforderungen im Strommarkt nicht mehr lange aufrechterhalten lassen.

Durch die politische Vorgabe eines deutschlandweit einheitlichen Strompreises orientieren sich alle Akteure im Strommarkt - die Stromkunden, Kraftwerke, Wind- und Solarparks, Batterien und Pumpspeicherkraftwerke, Wasserstofferzeuger, Importe und Exporte - an ebendiesem Preissignal. In der Folge werden häufig Entscheidungen getroffen, die in der Physik des Netzes nicht möglich und volkswirtschaftlich unsinnig sind. Ist der Strompreis an der Börse beispielsweise moderat hoch, erzeugen Kraftwerke und Windparks im Norden Deutschlands viel Strom, obwohl er nicht in die Verbrauchszentren des Südens abtransportiert werden kann. Gleichzeitig stehen Gaskraftwerke in Bayern still, sodass die lokale Stromnachfrage nicht gedeckt werden kann. Damit fangen die Probleme aber erst an: Pumpspeicherkraftwerke im Schwarzwald pumpen trotz der Stromknappheit in Süddeutschland Wasser in die Berge, und intelligente Elektroautos in Stuttgart laden ihre Batterien auf, weil der für sie sichtbare Strompreis niedrig ist - in Wirklichkeit erreicht der günstige Windstrom Baden-Württemberg jedoch gar nicht. Mehr noch: Deutschland exportiert Strom nach Frankreich und in die Schweiz, weil die Preise dort höher sind, aber kann den Strom gar nicht an die Grenze liefern - gleichzeitig importieren wir aufgrund des Preissignals Strom aus Schweden und Dänemark, obwohl die Leitungen in Niedersachsen ja bereits von der heimischen Produktion überfordert sind.

Die Nord-Süd-Engpässe in Deutschland wirken jedoch nicht nur in eine Richtung. Bei einem weiteren Ausbau der Solarenergie im Süden Deutschlands können sich dieselben Probleme mit umgekehrten Vorzeichen als Folgen eines Überangebots in Bayern oder Baden-Württemberg ergeben.

Weil die Physik bei dem Wunsch nach einem deutschlandweit einheitlichen Strompreis nicht mitspielt, müssen die Netzbetreiber all diese (Fehl-)Entscheidungen in mühsamer Kleinarbeit im Rahmen des sogenannten Redispatch korrigieren: Kraftwerke in Süddeutschland werden auf Anordnung hochgefahren, Windparks in der Nordsee abgeregelt. Die einen bekommen für die Produktion mehr Geld als den einheitlichen Strompreis, die anderen bekommen Geld dafür, dass sie nicht produzieren. Ein Problem dabei ist, dass viele Anlagen von den Netzbetreibern nicht erreicht werden können, beispielsweise Batterien, Elektroautos oder kleine Solaranlagen - diese richten ihr Verhalten weiterhin an dem einheitlichen Börsenstrompreis aus. Auch Exporte und Importe können sie nur sehr begrenzt revidieren. Dieser Redispatch ist eine kostspielige und komplexe Reparatur im Strommarkt, die im Ergebnis doch dazu führt, dass das Angebot lokal unterschiedlich vergütet wird - aber eben durch die Hintertür.

Die Redispatch-Reparatur beraubt Deutschland der Effizienz und Effektivität einer marktwirtschaftlichen Preissteuerung. Anstatt also einen Markteingriff mit seinen resultierenden physikalisch unmöglichen Entscheidungen mühselig und unvollständig zu reparieren, sollte der Weg freigemacht werden für Strompreise, die Angebot und Nachfrage regional ausgleichen und dadurch den lokalen Stromwert widerspiegeln. Der Strompreis an der Börse sollte dort höher sein, wo gerade hohe Nachfrage herrscht, und dort niedrig, wo in diesem Moment ein Überangebot vorliegt. Diese Verhältnisse ändern sich im Minutentakt, sodass die Preisunterschiede dynamisch variieren. Auf Grundlage solcher Preise können Kraftwerke, Speicher, Importe und Exporte sowie intelligenter Stromverbrauch netzdienlich optimiert werden und die durchschnittlichen Stromkosten senken.

Lokale Strompreise bedeuten auch, dass neue Industrieinvestitionen vom lokalen Grünstromüberschuss profitieren können. Wer heute in Mecklenburg in Wasserstoffherstellung, Rechenzentren oder grüne Stahlfabriken investiert, zahlt ja immer den deutschlandweiten Preis, selbst wenn der Strom regional im Überfluss vorhanden ist und der Windpark nebenan abgeregelt wird. Weil Investoren in Deutschland keinen günstigen Strom bekommen, zieht es sie immer häufiger ins Ausland: beispielsweise nach Schweden, wo es schon lange regionale Strompreise gibt.

Die Entscheidung über lokale Strompreise sollte daher besser früher als später fallen. Mit dem Kapazitätsmarkt wird in den kommenden Monaten eine wesentliche Entscheidung für das Strommarktdesign der nächsten Jahre und Jahrzehnte getroffen. Die Politik könnte der Versuchung erliegen, die faktische Existenz regionaler Strommärkte in Deutschland und die Notwendigkeit lokaler Preise zu negieren, indem sie die Standortwahl neuer Kraftwerke im Rahmen des neuen Kapazitätsmarktes diktiert. Doch selbst wenn es gelänge, die Standortentscheidungen effizient zu regulieren, blieben Kraftwerkseinsatz, Speicher, Verbraucher und Import/Export weiterhin auf dem lokalen Auge blind, da sich lokale Marktverhältnisse nicht im Preis widerspiegeln. Weil dann Batterien, Elektroautos und Power-to-Heat-Anlagen die Netze zu überlasten drohen, steht zu befürchten, dass sie eng reguliert oder ganz ausgebremst werden - obwohl wir gerade solche Flexibilitätsoptionen für das Energiesystem der Zukunft dringend brauchen. Signalisiert die Politik jedoch, dass sie in Zukunft auf lokale Preise umschwenkt, werden Investoren an effizienten Standorten bauen. Andernfalls werden die Probleme des Strommarktes nur notdürftig repariert, die Finanzierung des Kapazitätsmarktes wird teurer, und das Ziel einer sicheren, erneuerbaren und kostengünstigen Stromversorgung rückt weiter in die Ferne.

Immer mehr Länder gehen diesen Weg. In Europa haben Dänemark, Norwegen, Schweden und Italien länger schon kleinere regionale anstelle einer nationalen Preiszone. In den USA haben viele Strommärkte zunächst ihre Preiszonen geteilt, um dann noch lokalere Preise auf Ebene der Netzknoten einzuführen ("Nodal Pricing"). Und auch Deutschland hat schon eine Zonenteilung gemeistert: Wir hatten 17 Jahre lang eine gemeinsame Gebotszone mit Österreich, die 2018 aufgetrennt wurde. Für die mit lokalen Preisen notwendigen Umstellungen auf dem Terminmarkt liegen seit Langem tragfähige Konzepte auf dem Tisch. Auch Verteilungsfragen, die etwa bei der stromintensiven Industrie im Süden und den Betreibern der Offshore-Windparks im Norden auftreten können, lassen sich lösen, ohne den Marktmechanismus auszuhebeln. Die Unterschiede in den Jahresdurchschnittspreisen sind vermutlich ohnehin moderat - laut verschiedenen Studien 5 bis 20 Euro/MWh - und damit geringer als heute bestehende Unterschiede in den Verteilnetzentgelten. Zudem senkt die Einführung lokaler Preis die Netzentgelte, über die der Redispatch finanziert wird.

Viel relevanter für den effizienten Betrieb des Energiesystems als die Betrachtung der Durchschnittspreise sind jedoch die Unterschiede in einzelnen Viertelstunden, da diese die Anreize für einen netzdienlichen Betrieb von flexiblen Anlagen setzen. Nur lokale Preise auf dem Strommarkt können die Dynamik des Stromnetzes sinnvoll in Flexibilitätsanreize übersetzen, alternative Steuerungsinstrumente überzeugen nicht. Solche Preisunterschiede sind auch entscheidend für effiziente Investitionsentscheidungen, Flexibilisierungsentscheidungen, Innovationsanreize und damit die Resilienz des Strommarktes bei der Transformation zu einem nachhaltigen Stromsystem.

Die Einführung von lokalen Preisen kann natürlich einen ambitionierten und schnellen Ausbau der Stromnetze nicht ersetzen. Doch das wird nicht reichen. Damit Deutschland seine ehrgeizigen wirtschaftlichen und klimapolitischen Ziele erreichen kann, braucht es ein Strommarktdesign, das die physikalische und ökonomische Realität widerspiegelt. Und dazu gehören auch lokale Preise auf dem Strommarkt.

*Die Autoren sind: Lion Hirth (Hertie School und Neon), Axel Ockenfels (Uni Köln und MPI Bonn), Martin Bichler (TU München), Ottmar Edenhofer (PIK und TU Berlin), Veronika Grimm (TU Nürnberg), Andreas Löschel (Ruhr-Uni Bochum), Felix Matthes (Öko-Institut), Christoph Maurer (Consentec und FAU Erlangen-Nürnberg), Karsten Neuhoff (DIW), Karen Pittel (Ifo), Achim Wambach (ZEW), Georg Zachmann (Bruegel)

Die politische Vorgabe eines deutschlandweit einheitlichen Preises hat große Nachteile.

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Prof. Dr. Karen Pittel

Prof. Dr. Karen Pittel

Director of the ifo Center for Energy, Climate, and Resources
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