Gastbeitrag

Wettbewerbsfähigkeit; Europa in der Technologiefalle

Wenn Arbeitgeber in Ausschreibungen die Löhne angeben müssen, steigen Gehälter und Beschäftigung. Die Reform kostet nichts und hilft den Schwächsten.


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ.net

Der Befund macht Sorgen: Amerikanische Unternehmen forschen häufiger an Hochtechnologie als deutsche oder europäische. Doch hat die Europäische Union die Chance, von den Vereinigten Staaten zu lernen. Ein Gastbeitrag.

Von Clemens Fuest, Daniel Gros und Jean Tirole Forschung und Entwicklung und daraus resultierende Innovationen haben für die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften und damit für wirtschaftlichen Wohlstand zentrale Bedeutung. Deshalb ist es beunruhigend, dass Europa und Deutschland auf diesem Gebiet gegenüber den USA, und nun auch China, an Boden verlieren.

Woran erkennt man diesen Abstieg? Er zeigt sich sowohl auf der Inputseite, also den Aufwendungen für Forschung und Entwicklung, als auch an den Ergebnissen dieser Investitionen, die sich in Patenten, Unternehmensgründungen und letztlich in der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung niederschlagen.

Schon vor mehr als 20 Jahren, im Rahmen der 2000 beschlossenen Lissabon-Strategie, hatte die EU sich vorgenommen, die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft zu steigern. Um das zu erreichen, sollte unter anderem der Anteil der gesamtwirtschaftlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) steigen. Das Ziel wurde weit verfehlt. Heute liegen sie mit 2,2 Prozent des BIP kaum höher als damals.

In den Vereinigten Staaten betragen die Ausgaben für Forschung und Entwicklung dagegen 3,5 Prozent des dortigen BIP. In absoluten Zahlen liegen die Ausgaben in den USA mit 730 Milliarden Euro mehr als doppelt so hoch wie in der EU mit 322 Milliarden Euro. In Europa gibt es erhebliche Unterschiede: Vor allem in südeuropäischen Volkswirtschaften wie Italien und Spanien wird wenig investiert; dort liegen die Quoten bei rund 1,5 Prozent. Deutschland steht mit 3,1 Prozent besser da.

Die Höhe der Ausgaben für Forschung und Entwicklung (F&E) ist allerdings nur ein Aspekt. Wichtig ist auch ihre Zusammensetzung. Hier fällt zunächst auf, dass der Anteil der staatlichen Ausgaben für F&E an der Wirtschaftsleistung in der EU und den USA ähnlich ist. Der Unterschied entsteht vor allem dadurch, dass die europäischen Unternehmen weniger in Forschung und Entwicklung investieren. Die privaten Investitionen sind in der EU mit 1,2 Prozent des BIP nur etwa halb so hoch wie die in den USA (2,3 Prozent).

Zwischen Hochtechnologie und Mitteltechnologie

Wie kommt es zu diesem Gefälle? Es entsteht vor allem dadurch, dass forschungsintensive US-Unternehmen auf anderen Gebieten tätig sind. Es ist üblich, in der technologischen Entwicklung zwischen "Hochtechnologiebereichen" und "Mitteltechnologiebereichen" zu unterscheiden. Zur Hochtechnologie werden beispielsweise die Entwicklung von Software und Hardware für die Digitalindustrie, die Biotechnologie oder die Luft- und Raumfahrt gezählt. Dagegen wird die Entwicklung von Autos und industriellen Maschinen, Chemikalien oder Telekommunikationssystemen der Mitteltechnologie zugeordnet.

Hightechbereiche spielen in den Vereinigten Staaten eine deutlich größere Rolle. In der Europäischen Union investieren die Unternehmen ungefähr gleich viel in F&E in Hightech- und Midtechindustrien - jeweils etwa 45 Prozent der Gesamtausgaben. In Deutschland ist der Anteil der Midtechindustrien mit 57 Prozent sogar noch höher als im EU-Durchschnitt, der Hightechanteil liegt nur bei 36 Prozent. US-Unternehmen konzentrieren ihre Forschung und Entwicklung dagegen hauptsächlich auf Hightechindustrien. Sie betragen 85 Prozent der privatwirtschaftlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung in den Vereinigten Staaten.

Über Einordnungen verschiedener Bereiche als Hoch- oder Mitteltechnologie lässt sich zweifellos streiten. Die Abgrenzung kann schwierig sein, unter anderem deshalb, weil digitale Innovationen etwa in der Autoindustrie eine immer wichtigere Rolle spielen. Allerdings zeigen deutsche Autounternehmen gerade im IT-Bereich erhebliche Schwächen. Eindeutig ist, dass die Unternehmen in den Hochtechnologiebereichen in den vergangenen Jahrzehnten viel schneller gewachsen sind. Das hat dazu geführt, dass auch die Forschungsausgaben schneller gestiegen sind. In der EU haben sie sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten ungefähr verdoppelt, in den USA aber vervierfacht.

Mercedes, Siemens und VW mit höchsten Forschungsausgaben

Die Dynamik in den USA zeigt sich auch, wenn man betrachtet, welche Unternehmen die höchsten Ausgaben tätigen und ob und wie sich diese Gruppe verändert. Die drei Unternehmen mit den höchsten Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der EU waren im Jahr 2003 Mercedes, Siemens und VW. In den USA waren es damals Ford, Pfizer und General Motors. In beiden Fällen dominierte also die Autoindustrie. Im Jahr 2022 gehörten in der EU immer noch VW und Mercedes zur Spitzengruppe, nur Bosch hat Siemens abgelöst. Die Dominanz der Autoindustrie hatte sich in Europa (und Deutschland) also verstärkt. In den USA hingegen ist diese Industrie jetzt zweitrangig. Dort führten 2022 Amazon, Alphabet und Meta bei den Ausgaben für F&E.

Betrachtet man statt Ausgaben für Forschung und Entwicklung internationale Patentanmeldungen, die wegen der damit verbundenen hohen Kosten gewisse Qualitätsstandards erfüllen, dann zeigt sich ein ähnliches Bild. Europa ist führend in der Autoindustrie oder im Spezialmaschinenbau. Aber diese gehören zu den Midtechsektoren, die im Jahr 2023 nur 6,7 Prozent aller internationalen Patente ausmachten, bei weiter fallender Tendenz. Hightechsektoren haben mit 35 Prozent einen deutlich größeren und wachsenden Anteil an den Patenten. Hier dominieren die USA, während China aufholt und Europa abgehängt wird.

Es passt ins Bild, dass die hohen Investitionen in stark wachsenden Hochtechnologiebereichen auch mit einem zunehmenden Wirtschaftsgefälle zwischen den USA und der EU einhergehen. Das zeigt sich drastisch daran, dass unter den global führenden, neu entstandenen Technologieunternehmen keins aus Europa kommt. Das Gefälle wird auch deutlich, wenn man die Entwicklung der Arbeitsproduktivität betrachtet. Bis zur Mitte der 1990er Jahre hatten die EU-Staaten gegenüber den USA aufgeholt. Seitdem hat sich dieser Trend sich jedoch gedreht. Die EU fällt wieder hinter die Vereinigten Staaten zurück. Zwar wird die Arbeitsproduktivität von vielen Faktoren beeinflusst, aber Innovationen spielen für die Produktivitätsentwicklung eine wichtige Rolle.

Ist die Spezialisierung Europas und insbesondere Deutschlands auf Mitteltechnologien wirklich ein Nachteil? Dem könnte man entgegenhalten, dass es sich um eine internationale Arbeitsteilung und Spezialisierung handelt, bei der alle Beteiligten sich eben auf das konzentrieren, was sie am besten können. Das ist aus zwei Gründen nicht ganz überzeugend: Erstens sind die Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung erheblich durch staatliches Handeln geprägt. Zweitens gibt es auch bei privater Forschung und Entwicklung erhebliche Pfadabhängigkeiten.

Dies sieht man deutlich im Softwarebereich. Die US-Hightechunternehmen sind sehr viel profitabler. Die Differenz in den durchschnittlichen Gewinnmargen zwischen Hoch- und Mitteltechnologieunternehmen in den USA liegt bei 7 Prozentpunkten, in der EU sind es nur 3 Prozentpunkte. Bei Software ist der Unterschied noch größer. Das kann erklären, warum so viel mehr Kapital in den US-Hochtechnologiesektor fließt. Ein Grund für die geringeren Gewinnmargen in den europäischen Hochtechnologiebranchen muss sicher auch in der Zersplitterung der Märkte und der höheren Regulierungsdichte, besonders im Softwarebereich gesucht werden.

Zweifellos sind die hohen Gewinne der US-Technologieunternehmen zumindest teilweise das Ergebnis von Marktmacht und Monopol- oder Oligopolstellungen, die durch Netzwerkeffekte entstehen. Technologiepolitisch ergibt sich daraus jedoch das Problem, dass hohe Gewinne die Finanzierung von Forschung und Entwicklung im Hochtechnologiebereich in den USA antreiben. Dadurch wächst die Marktdominanz dieser Unternehmen weiter.

Das führt zu einem sich selbst verstärkenden Prozess, in dem die EU immer weiter zurückfällt. Aus diesen Gründen ist die aktuelle Lage nicht allein als Ergebnis effizienter Marktprozesse zu betrachten. Aber dies ändert nichts an der Tatsache, dass die EU abgehängt wurde und es gewaltiger Anstrengungen bedürfte, um europäische Unternehmen in diesen Sektoren wieder zum Erfolg zu führen. Dies zeigt auch die Erfahrung des europäischen Vorzeigeunternehmens auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, Mistral, das eine Kooperation mit Microsoft eingegangen ist.

Bedingungen für bahnbrechende Innovationen verbessern

Man könnte auch einwenden, die Klassifizierung der Sektoren als Midtech oder Hightech sei fragwürdig, weil sie suggeriert, die Hightechsektoren seien notwendigerweise zukunftsträchtiger als die Midtechsektoren. Es ist kaum möglich, heute vorherzusagen, in welchen Bereichen die europäischen Volkswirtschaften künftig eine besonders hohe Wertschöpfung erzielen können. Dennoch ist zu berücksichtigen, dass die Hightechbereiche schon seit längerer Zeit deutlich höhere Wachstumsraten aufweisen und dadurch auch das Volumen der Forschung- und Entwicklungsausgaben dort schneller expandiert.

Das hier dokumentierte Zurückfallen der großen EU-Staaten bei den Investitionen für Forschung und Entwicklung ist aus dieser Perspektive zumindest riskant. Nicht zuletzt ist zu bedenken, dass vor allem Deutschland in seiner Kernkompetenz, der Autoindustrie, durch die Veränderung hin zu Elektroantrieben und vernetzten Mobilitätskonzepten Wettbewerbsvorteile verlieren könnte. Kürzlich kam ein Ranking des Automotive-Forschungsinstituts CAM zu dem Ergebnis, dass unter den 10 weltweit meistverkauften Elektroautos keins aus Deutschland kommt.

Was folgt aus dem Befund, dass Europa in einer Art Mitteltechnologie-Falle steckt und bei Hochtechnologien zunehmend den Anschluss verliert? Auf den ersten Blick erscheint es naheliegend zu fordern, dass mehr staatliche Mittel in die Computer- oder Softwareindustrie gelenkt werden. Ressourcen gezielt in Felder zu lenken, bei denen europäische Unternehmen im internationalen Wettbewerb schon weitgehend abgehängt sind, bietet jedoch kaum Chancen auf Erfolg. Es ist aussichtsreicher, ohne enge sektorale Festlegung die Bedingungen für bahnbrechende Innovationen über alle Sektoren hinweg zu verbessern. Das erfordert Veränderungen in der staatlichen Förderung von Forschung und Entwicklung, aber darüber hinaus ein umfassendes Konzept zur Stärkung der Innovationskräfte in Europa.

Amerikanische Innovationsagenturen als Vorbild

Weltweit gelten die amerikanischen Innovationsagenturen ARPA (Advanced Research Project Agencies) als Vorbild, wenn es um bahnbrechende technologische Neuerungen geht. Am bekanntesten darunter ist die DARPA, die auf sich auf Rüstungsprojekte konzentriert und über ein jährliches Budget von rund 4 Milliarden Euro verfügt. Weitere ARPA-Agenturen fördern grundlegende Innovationen in der Energie und Gesundheit. In Deutschland wurde vor Kurzem die Bundesagentur für Sprunginnovation (SPRIND) gegründet. Sie verfolgt den gleichen Zweck, ist aber finanziell nur sehr schwach ausgestattet.

Auf EU-Ebene gibt es seit 2021 den European Innovation Council, der ähnlich wie ARPA bahnbrechende Innovationen unterstützen sollte. Natürlich ist es nicht sinnvoll, einfach das US-Vorbild ARPA zu kopieren - zu unterschiedlich sind die Innovationsbedingungen diesseits und jenseits des Atlantiks. Dennoch muss sich die EU-Innovationspolitik daran messen lassen, ob sie das Ziel, bahnbrechende Innovationen zu fördern, erreicht. Dabei geht es um Projekte, die noch weit von der Marktreife entfernt sind und deshalb nicht privat finanziert werden.

Hier zeigen sich große Schwächen. Der European Innovation Council hat nicht nur zu wenig, sondern auch zu wenig hoch qualifiziertes Personal, um Projekte aus allen Branchen betreuen zu können. Die Entscheidungsstrukturen sollten reformiert werden, indem der Einfluss der EU-Kommission verringert wird und Spitzenwissenschaftler mehr Kompetenzen erhalten. Dazu kommt, dass die Programme des European Innovation Council Innovationsziele mit anderen wirtschaftspolitischen Anliegen verbinden, vor allem der Förderung mittelständischer Unternehmen. Auch die Einbindung von Akteuren aus ärmeren Mitgliedstaaten in Forschung und Entwicklung durch die Anforderung breiter länderübergreifender Zusammenarbeit ist gut gemeint, verwässert aber die Ausrichtung auf bahnbrechende Innovationen und beeinträchtigt die Wirksamkeit der eingesetzten Mittel.

Vorhandene Mittel besser einsetzen

Die bestehenden EU-Programme sollten stattdessen konsequent auf Sprunginnovationen ausgerichtet werden. Projekte sollten unabhängig davon gefördert werden, ob sie von großen oder kleinen Unternehmen oder Forschungseinrichtungen beantragt werden. Kooperationen sollten freiwillig sein und nicht als Voraussetzung für eine Förderung erzwungen werden. So könnten die vorhandenen Mittel, immerhin mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr, viel besser eingesetzt werden. Die auf EU-Ebene bereitgestellten Mittel sind aber nur ein Teil der staatlichen Innovationsförderung. Auch die nationalen Innovationspolitiken sollten überprüft und stärker auf disruptive Innovationen ausgerichtet werden.

Um spürbare Fortschritte zu erreichen, reicht es nicht aus, nur bei der staatlichen Förderung von Sprunginnovationen anzusetzen. Erforderlich ist eine umfassende wirtschaftspolitische Agenda zur Stärkung der Innovation. Private Kapitalmärkte müssen entwickelt werden, damit mehr Risikokapital für Unternehmensgründungen fließt. Das Steuerrecht darf den Finanzierungsprozess nicht behindern, etwa durch übermäßige Einschränkung des Verlustausgleichs. Die Arbeitsmarktregulierung sollte es neu gegründeten Unternehmen ermöglichen, Personal schnell auf-, aber auch abzubauen. Nicht zuletzt ist es entscheidend, die noch immer erheblichen Hindernisse für grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivität im EU-Binnenmarkt abzubauen, um neuen Unternehmen bessere Wachstumschancen zu bieten.

F.A.Z.

Daniel Gros (69) ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Direktor des Institute for European Policymaking an der Bocconi-Universität in Mailand. Er war Berater des Delors-Komitees, das die Pläne für die Europäische Währungsunion entwickelt hat. Zudem berät er das EU-Parlament und verschiedene Notenbanken. In seiner Forschung befasst sich Gros, der aus Wiesbaden stammt, mit Geldpolitik, Außenhandel und allgemeiner Makroökonomik.

Clemens Fuest (55) ist Präsident des Ifo-Instituts, Direktor des Center for Economic Studies der Ludwig-Maximilians-Universität München und an der LMU zudem Professor für Volkswirtschaftslehre. Fuest ist ein gefragter Politikberater. Doch sieht er seine Aufgabe als Wissenschaftler auch darin, Erkenntnisse der breiten Öffentlichkeit zu vermitteln, um kritische Debatten zu ermöglichen. Als liberaler Ökonom wirbt er stets für möglichst marktwirtschaftliche Wege.

Jean Tirole (70) ist Wirtschaftsprofessor und Mitgründer der Toulouse School of Economics (TSE) und des Institute for Advanced Study in Toulouse (IAST). Tirole stammt aus dem französischen Troyes. Seine Forschung befasst sich mit Industrieökonomik, Regulierung, Spieltheorie, Banken und Währungskrisen. Er ist der meistzitierte Wirtschaftswissenschaftler in Europa und hat viele Auszeichnungen erhalten, darunter 2014 den Ökonomie-Nobelpreis.

Kontakt
Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest

Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest

Präsident
Tel
+49(0)89/9224-1430
Mail